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Date: 2001-01-28
NAIIN: Filter, McCarthy-ismus, Verfolgungswahn
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Das Projekt NAAIN - eine Initiative vor allem von gelernten
Advertisern und Marketern, wobei auch ein Filtersoftware-
Produzent nicht fehlen darf - gerät immer ins Schussfeld der
Auskenner-Community. Stellvertretend für viele andere
fundierte Postings sei hier die Antwort von Hartmut Pilch auf
ein Posting eines NAIIN-Vertreteres wieder gegeben. Der
Dialog leif gestern über die renommierte Liste
[email protected].
Spaßigerweise fungiert ausgerechnet Helmut Thoma, der
Erfinder des deutschen Tittenfernsehens, als Schirmherr
dieser Aktion für sauberes Internet.
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http://www.naiin.org/naiin.htm#schirm
Related
http://www.quintessenz.at/archiv/msg01247.html
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Date sent: Sat, 27 Jan 2001 19:17:36 +0100 (CET)
From: PILCH Hartmut <[email protected]>
Subject: Re: "naiin" und die Meinungsfreiheit bzw. Zensur
[email protected] schreibt
> Wir wollen, dass das Grundgesetz auch im Internet gilt.
Grundrechtsdebatten sind von Widersprüchen und Paradoxa gekennzeichnet.
Bei der Anwendung hergebrachter Begriffe auf eine neue Wirklichkeit
ist daher Vorsicht geboten. U.U. müssen auch die Begriffe auf den
Prüfstand gestellt werden.
Derzeit besteht die große Gefahr, dass über technische Mittel mit
staatlicher Unterstützung allerlei Grundrechte ausgehebelt werden.
Man lese hierzu
http://cryptome.org/jg-wwwcp.htm
http://www.gnu.org/philosophy/right-to-read.html
Wovon Stalin träumte, das machen Disney/IBM/Microsoft/Bertelsmann usw
wahr. Mithilfe von willfährigen Politikern und wohlmeinenden
Initiativen wie N@IIN.
> Auf der Homepage von naiin ist eine Meldestelle eingerichtet, wo
> jeder rechtsextremistische Seiten melden kann.
Manche Leute erinnert schon das an die Blockwart-Mentalität, der man
ja vielleicht bei uns auch besonders entgegentreten muss.
> Diese Seiten wer- den dann geprüft und gegebenenfalls dem
> zuständigen Provider oder auch der Polizei oder dem
> Verfassungsschutz gemeldet.
Ärgerlich ist besonders, dass hier künstlich ein Klima des
McCarthy-ismus, Verfolgungswahns usw angeheizt wird.
> Dabei stellt sich die Frage, was heißt gegebenenfalls, nach wel-
> chen Kriterien wird hier entschieden?
Es wäre schon wesentlich akzeptabler, wenn Sie einfach die
fragwürdigen Seiten auflisten und kritisieren würden. Aber das darf
man ja gar nicht mehr. Schon ein Verweis (Link) ist ja ein
Verbrechen, wie man unter
http://www.burks.de/kafka.html
eindrucksvoll nachlesen kann.
> Über das Ausmaß von Meinungsfreiheit gibt es sehr unterschied-
> liche Auffassungen. In den USA beispielsweise ist das Recht auf
> Meinungsfreiheit sehr weit gefasst, jeder darf dort die Existenz des
> Holocaust leugnen, darf Hakenkreuze zeigen und darf nationalsozi-
> alistische Parteien betreiben
Beim Betreiben von Parteien verlässt man schnell das Terrain der
bloßen Veröffentlichung. M.E. wird es Zeit, auch in Deutschland den
Begriff der Meinungsfreiheit weit zu fassen und gegen das tatsächliche
Handeln abzugrenzen. Was sich im Bereich der bloßen Verbreitung von
Information abspielt, soll nicht strafbar sein. Alles andere ist dem
Medium Internet nicht angemessen. Im Internet verschwimmen viele
Grenzziehungen, die früher mit Mühe und Not noch möglich waren. Aber
die Grenzziehung zwischen Information und Materie (VR und RL) wird
deutlicher denn je. Das Recht tut gut daran, sich an Kategorien zu
orientieren, die in der Wirklichkeit eine Rolle spielen. Notfalls
muss auch das deutsche Strafrecht oder gar das Grundgesetz in ein paar
Einzelheiten auf den Prüfstand gestellt werden.
> und die entsprechenden Positionen
> verbreiten (s.z.B. Gary Lauck). Hier in Europa, speziell in Deutsch-
> land, ist man anderer Auffassung, und wir sind das auch: die
> Meinungsfreiheit ist ein sehr hohes demokratisches Gut, das
> aber bestimmte Grenzen hat. Um diese Grenzen nicht selbstherr-
> lich und willkürlich zu ziehen, orientiert sich naiin tatsächlich am
> deutschen Strafrecht (das nach allgemeiner Auffassung konform
> mit unserem Grundgesetz ist). Dabei gilt unsere Aufmerksamkeit
> vor allem folgenden Fällen:
> Verbreitung von Propagandamitteln, Verwendung von Kennzeichen
> verfassungswidriger Organisationen, Androhung von Straftaten,
> Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, Volksverhetzung,
> Beschimpfung von Bekenntnissen, Beleidigung, Verleumdung. Nur
> solche Seiten, in denen ausdrücklich solche Dinge vorkommen,
> werden nach unseren Möglichkeiten bearbeitet:
Sie haben hier ein paar dehnbare Rechtsbegriffe aufgelistet:
Volksverhetzung
Beschimpfung von Bekenntnissen
Beleidigung
Je nachdem wer das interpretiert, könnte hiermit die Meinungsfreiheit
teilweise oder restlos beseitigt werden.
> d.h. die Provider
> werden um Abschaltung gebeten (die größten Provider sind Mit-
> glied bei naiin) und/oder die Seiten werden den zuständigen Behör-
> den gemeldet. Solche Seiten dagegen, die zwar eine rechte Gesin-
> nung, aber keine strafrechtlich relevanten Inhalte aufweisen, sollen
> natürlich existieren können. Bildlich gesprochen: Wir wollen nie-
> manden verurteilen, nur weil er Bomberjacke und Springerstiefel
> trägt, aber wenn er auch noch Hakenkreuze trägt und Andersden-
> kende verprügelt, wollen wir uns einmischen.
Handgreifliche Handlungen wie "verprügeln" sind hier nicht Thema.
> Das Selbstverständnis von naiin umfasst unter anderem auch noch
> den Gedanken der Freiwilligen Selbstkontrolle der Internetcom-
> munity, so wie er in anderen Medien z.B. in der Film- oder Buch-
> branche seit Jahrzehnten existiert.
Dieser Gedanke lässt sich nicht auf ein Medium übertragen, in dem
jeder einen Sender aufmachen können. Oder aber Ihre INitiative
richtet sich gegen das Internet als solches.
> Jeder Kinofilm in Deutschland
> hat eine Altersbegrenzung, und bestimmte exzessive Videos sind
> gar nicht beziehbar. Wir meinen, dass es im Internet etwas ähnli-
> ches geben sollte, und in diese Richtung bemühen wir uns.
> Entsprechend geht es nicht nur um Rechtsextremismus, sondern
> auch um Kinderpornographie, extreme Gewalttätigkeit usw.,
> insgesamt eben wollen wir no abuse in internet³.
>
> Wir möchten aber auch weiterhin einen kritischen Dialog zum
> Thema Zensur und Meinungsfreiheit führen, dies geschieht
> vereinsintern in einer Arbeitsgruppe, und auf unserer Homepage
> wird demnächst ein Diskussionsforum eingerichtet.
Grundsätzlich sehe ich, dass die Meinungsfreiheit nicht unter allen
Umständen hochgehalten werden kann. Ob wir Sie jetzt hochhalten oder
lieber etwas einschränken, ist eine Frage der Einschätzung der
politischen Lage. Es ist die Frage: "Können wir uns heute eine
freiheitliche Ordnung noch leisten, oder leben wir schon in einem
Ausnahmezustand, der mehr oder weniger maßvoll autoritäre Maßnahmen
erfordert?"
Ich halte unsere Bürgergesellschaft für recht stabil, und alle
Suggestionen eines Ausnahmezuständes für Öl in die Flamme der
Extremisten, die in gerne herbeireden würden. Und die vielleicht auch
noch andere Gründe haben, das Internet einzuschnüren und die
Meinungsfreiheit (mit technischen Mitteln + staatlicher Unterstützung,
s. Software-Stalinismus) einzugrenzen.
Leider kann ich auch bei naiin Tendenzen beobachten,
Urheberrechtsmissbrauch und "Piraterie" auf einer Ebene mit sonstigem
"Missbrauch" zu behandeln. D.h. die software-stalinistischen Ansätze
sind recht deutlich. Wenn dann noch Tutti-Frutti-Thoma und einige
Medienkonzerne an vorderer Front mit dabei sind, die sich nicht gerade
um das Diskursniveau in unserem Land verdient gemacht und die
vielleicht die Verrohung eines Teils der Jugend mitzuverantworten
haben, dann stellt sich noch die Frage, ob hier vielleicht von eigenen
Verfehlungen abgelenkt wird. Die Stabilität der Republik hängt
nämlich zuerst vom Niveau der Bildung und des öffentlichen Diskurses
ab. Erst wenn man im Positiven nicht mehr weiter kommt, sind negative
Maßnahmen wie die von N@IIN propagierten angesagt.
Viele Grüße
Hartmut Pilch
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edited by Harkank
published on: 2001-01-28
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