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Date: 2001-09-17
Patient-USA: Ein Situationsbericht
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q/depesche 01.9.17/2
Zu unser aller Information und um vielleicht (besser) verstehen
zu können, wie es um Land und Leute jenseits des grossen Teiches
derzeit bestellt ist, hier ein paar Original/Eindrücke eines lieben Freundes
- Österreicher - der an der Columbia University studiert.
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Liebe Nicht-AmerikanerInnen,
ich will Euch nichts erzählen über Dinge, die Ihr ohnehin in
den Nachrichten serviert bekommt, und die in Europa wahrscheinlich
"informativer" sind als hierzulande, seit die Nachrichtensendungen
nicht mehr unter das Thema "America under attack" gestellt sind,
sondern "America United". Die New York Times druckte in der heutigen
Sonntagsausgabe auf der letzten Seite überhaupt nur eine USA-Flagge
ab. Wahrscheinlich wisst Ihr alle zehn Mal so viel wie ich über die
internationale Lage, ich habe keine Lust mehr, mir solche Sendungen
anzusehen oder Zeitungen zu kaufen, die ihre Auflage mit den Buchstaben
W-A-R steigern, von Zeit zu Zeit blicke ich immerhin auf die
ORF-online-Seiten...
Die Patriotismuswelle ist unglaublich, sie prägt das Straßenbild
und die öffentliche Meinung, die Parkbankgespräche im Central Park
("I tell you: religious fanatism is the cause of 99 per cent of
what's going wrong in the world"). In absolut jeder Straße wehen
Stars & Stripes von den Häusern, normale PKWs, Taxis, teilweise
sogar Polizeiwagen rasen mit großen und kleinen USA-Flaggen über den
Broadway, Flaggen sind an Rucksäcken befestigt, an Fahrrädern, an
Zwergpinschern ... Allgegenwärtig sind auch die kleinen Ansteck-Bänder
(nach dem Vorbild der AIDS-Solidaritätsbewegung) als Zeichen von -
zumindest - Solidarität, aber auch von Nationalismus: So lagen hunderte
derartige "Ribbons" auch hier im International House zur freien Entnahme
auf, unter dem Motto: "Nimm ein Band, und trag es mit Stolz". Der Platz
vor der Feuerwehrstation in der 83. Straße ist mit Blumen und Kerzen
übersät. Im Riverside Park macht eine große schwarze Katze Jagd auf
Eichhörnchen - vergeblich, die kleinen, wendigen Tierchen sind immer
eine Spur schneller. Über dieser Szene kreist ein raketenbestückter
Militärhubschrauber.
Von einer Reihe von Vorfällen gegen arabisch aussehende Menschen
habt Ihr sicher schon gehört, und auch manche Orientalen im International
House ziehen es derzeit vor, keine Ausflüge in andere Stadtteile zu machen,
während einige der Amis im Haus ihre Zimmertüren mit nationalen Symbolen
zupflastern, wie etwa Kirsten aus San Diego, zwei Türen weiter. Tracey
aus Texas, eine andere Stockwerksnachbarin mit der ich mich ansonsten recht
gut versteh', hat ein weiteres Argument pro Todesstrafe. Jeff, der an der
Columbia Journalismus studiert, zeigt am Gang selbst geschossene Bilder
vom Dienstag; er hat sich gegen den Strom der Richtung Uptown flüchtenden
Menschen durchgekämpft und dabei ganz auf Kriegsberichterstatter die
Polizeisperren überwunden. Heute wäre er dafür fast von einem
russischstämmigen Shop-Besitzer verprügelt worden, als er die Kamera
zückte um die riesige Flagge über dem vergammelten Antiquitätenladen zu
fotografieren.
Sanja aus Belgrad macht eine besonders schwere Zeit durch, sie hat zuletzt
die NATO-Intervention im Kosovo miterlebt und überlebt und konnte sich am
Freitag bei einer Versammlung der internationalen Law Students den Vortrag
einer Psychologin des Columbia Health Centers anhören, wonach akute
Traumata häufig dazu führen, dass auch frühere Traumata wieder an die
Oberfläche kommen. Alain aus Italien, ein Kollege aus dem LLM-Programm, war
von den internationalen Jus-Studenten am direktesten betroffen: Er hatte
seine Wohnung unmittelbar neben dem WTC und war die ganze Woche schwer
angeschlagen, immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt ("I had to run
over dead bodies ..."). Seine Wohnung ist praktisch zerstört, wenigstens
aber bietet die Columbia University Notunterkünfte für Betroffene an, auch
unter den Studenten selbst ist die Hilfsbereitschaft groß. In einem der
Nebengebäude des WTC hat(te) die Deutsche Bank ihr Hauptquartier, bei der
einige I-House-Bewohner ein Praktikum absolvieren, so auch die Elisabeth
aus Graz, die seit ihrer Flucht ebenfalls ziemlich angeknackst ist. Die
Praktikanten werden jetzt vermutlich heimgeschickt, die wenigen
brauchbaren Offices werden für "wichtigere" Mitarbeiter benötigt, derweil
angeblich bereits um Mietverträge für neue Büroräume in New Jersey
verhandelt wird.
Manche der "Betroffenen" klagen über Schlaflosigkeit, die Mehrzahl der
Leute hat dagegen eher ein gesteigertes Schlafbedürfnis, auch ich zähle
mich zu dieser Gruppe. Der Prozess der Verarbeitung kostet reichlich
Energie.
Eine kleinere Umstellung betrifft außerdem speziell hier den 5. Stock des
International House: die beiden ziemlich langen Deutschen Gregor und
Karsten wurden in Anlehnung an die WTC-Zwillingstürme bislang die "Twin
Towers" genannt ...
Trotz allem schreitet die Rückkehr zum "Alltag" weiter fort. Der Fluglärm
über New York City stammt nicht mehr ausschließlich von F-16-Jagdfliegern.
Der Straßenverkehr nimmt allmählich wieder seinen Platz als
hauptverantwortlicher Luftverpester ein, U-Bahnen zirkulieren fast überall
in Manhattan. Am Montag wird auf der Uni wieder das übliche Programm
gefahren, manche Professoren sind schon in Sorge über die "verlorenen"
Unterrichtsstunden und kündigen Extratermine an. Die für vergangenen
Freitag angesetzte Prüfung im Einführungskurs wurde auf diesen Freitag
verschoben, und am Dienstag lädt Frau Prof. Damrosch ihre
Völkerrechts-StudentInnen zum Lunch ein. Nehmt es als ein gutes Zeichen,
dass ich in diesen Tagen immerhin meinen Appetit nicht verloren habe...
:-)
ligrü
stefan
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edited by Harkank
published on: 2001-09-17
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